AM44 – Brief an Walter Gropius
New York, Samstag, 29. Oktober und Dienstag, 1. November 1910


29 Oct

Liebes – ich bin 2 Tage im Bett. Ich habe mir ein bissel viel zugemuthet, den ersten Tag[,] und muss mich schonen. Aber ich thue es mit Freuden, ohne jede Verstimmung[,] und heute ist mir schon fast ganz gut. Ich habe eben die Briefe der Babet gelesen, die mich unendlich rührten. Überhaupt das ganze hat einen ganz eigenen Liebreiz. – Ich bring’ es Dir wieder mit – es soll Dir gehören, oder – uns – wie Du willst . . . . .

Bist Du mein, so mein – als ich das brauche?

Im Frühjahr aber finde ich Mittel und Wege[,] um Dich zu sehen[.]


Ich brauche Dich –. – Ach – wenn Du doch da sein könntest[,] hier mit mir bei dem hellen Fenster sitzen könntest – die riesenhafte Schönheit New Yorks sehen könntest – das wäre für Dich. Vorgestern fuhren wir per Auto eine Stunde hinaus – aufs Flugfeld – ich sah das erste Mal Fliegen[,] und andre. Es war grandios. Leider kam ein gelber Sturm dahergefegt und wir alle mussten fliehen – panikartig stoben 1000de von Autos nach New York zurück . . . So wie alles hier – war auch der Orkan – schön & collossalisch . . . . wie einzig wäre es, Dich hier zu haben.

Deine


1. Nov.

Ich war ein paar Tage im Bett. Hatte eine Beinhautentzündung mit rasenden Schmerzen – man ist immer sofort mit dem Leben fertig – wenn Einem ein bissel was weh thut. Kleiner Mensch! – Heute fühl ich mich etwas wohler und sofort ist meine Liebe zu Dir wieder da! – Mein ! Jetzt nachträglich kommt es mir so komisch vor, – wie wir in dem Austernkeller saßen – beide etwas verschämt – Dein letztes Geld verfressend! Weißt Du mit wieviel Geld ich aufs Schiff gekommen bin – mit 30 frs. Und erste Worte waren – „Du hast doch Geld mit?“ – Zum Glück hatten wir er für die Schiffstrinkgelder genug und ich am Pear [!] liehen wir uns


sofort von Freunden aus – die uns erwarteten. –

Was thust Du, was arbeitest Du[.] – Soll ich Dir architectonische Brochuren schicken. Interessirt Dich so was? —

Sowie ich wohl bin, will ich trachten – nach Wall Street zu kommen[,] um Deine Post abzuholen[.] Lebe gesund[,] – Du bist es nicht in dem Maaß, als ich das wünschte. Du warest in Tobelbad gesünder! Ich bemerkte es an Deinem Athem – der in Tobelbad – gesund & rein – in Wien und Paris – es nicht war. Ich sage es Dir nur, damit Du darauf schaust, Deine Magenverstimmungen los zu werden! – Denn mir – ich liebe alles an Dir! —

[linker Rand:] Schreibe – Schreibe[.]


Apparat

Überlieferung

, , , .

Quellenbeschreibung

2 Bl. (4 b. S.) – Briefpapier.

Beilagen

Umschlag, , Germany | Berlin W. | Nicolsburgerplatz 4. G. IV | Herrn Walter Gropius; PSt.: GRAND CENTRAL, STA. N.Y. | NOV 1 | 630 PM | 1910; von WG mit einer 2 (Zur Nummerierung von Alma Mahlers Briefumschlägen) sowie dem Empfangsdatum 10. Nov 10 versehen; rückseitig: WG98.

Druck

Erstveröffentlichung.

Korrespondenzstellen

Beantwortet durch WG98 vom 10. November 1910 (Dein lieber Brief. Er ist verwischt, warum Tränen darauf?): Deine Alma [Tinte leicht verwischt], WG99 vom 10. oder 11. November 1910 (denn Du findest mich wieder, wie Du es Dir wünscht): Bist du mein, so mein – als ich das brauche?, WG100 vom 10. oder 11. November 1910 (schick mir was Du findest u mich interessieren könnte. Ich werde dann bald sehn ob Du schon weißt was mich eigentlich interessiert): Soll ich Dir architectonische Brochuren schicken. Interessiert Dich so was?, WG101 vom 10. oder 11. November 1910 (m[it] 3 Franc von P.[aris] traurig, daß ich Dir nichts leihen konnte): Weißt Du mit wieviel Geld ich aufs Schiff gekommen bin – mit 30 frs und WG103 vom 17. November 1910 (Beinhautentzündung): Hatte eine Beinhautentzündung mit rasenden Schmerzen.

Datierung

Datiert durch AM und Poststempel: 29[.] Oct[ober] und 1. Nov.[ember] 1910.

Übertragung/Mitarbeit


(Paul Martin)
(Tim Reichert)


A

Buch – In Bibliothek stand , erschienen 1755 in der Weidmannischen Buchhandlung zu Leipzig (, S. 92), darin ab Seite 479 die Briefe der Babet an den [Edme] Boursault.

B

Flugfeld – wahrscheinlich die umfunktionierte Pferderennanlage Belmont Park auf Long Island, Austragungsort eines internationalen Luftfahrtturniers (22.–30. Oktober 1910). Teilnehmer waren unter anderem das von und trainierte Wright Exhibition Team und der französische Luftfahrtpionier , damals Inhaber mehrerer Weltrekorde (, S. 95).

C

Tinte der Schlussformel leicht verwischt.

D

Beinhautentzündung – Entzündung der sehr schmerzempfindlichen Kieferknochenhaut.

E

Austernkeller – wahrscheinlich am 17. oder 18. Oktober 1910 in Paris.

F

Wall Street – Gemeint war der Distrikt am südlichen Ende von Manhattan, etwa 7,5 Kilometer von Hotel Savoy entfernt. Zwar befand sich dort seit 1905 ein „post office at 60 Wall street“ (, S. 12), jedoch spielte sehr wahrscheinlich auf das General Post Office an (WG86 vom 17. bis 19. Oktober 1910; vgl. auch den Umschlag zu AM49 vom 30. November und 3. Dezember 1910), das unter dem Namen City Hall Post Office firmierte, „the city’s main office in 1875“ (, S. 106). Das Gebäude lag lediglich einen knappen Kilometer nördlich der Wall Street und wurde 1914 vom James A. Farley Building als United States General Post Office abgelöst.

G

Dreifach unterstrichen.